Nach der Schulzeit
Das Lernen in der Berufsschule hat mir wieder Spaß gemacht, denn hier galt tatsächlich: Non scolae, sed vitae discimus!* Aber alles andere darum herum war eine Katastrophe für mich: Eine große Firma. Viele Menschen. ‚Ungeschriebene’ Regeln, die ich nicht kannte. Situationen, mit denen ich nicht zurechtkam**. Meine Sehprobleme***, die mir damals nicht bewusst waren. Kurzum: Fiasko hoch drei.
[* Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir!
** Autisten können nicht spontan sein, adaequat reagieren in unvorhergesehenen Situationen, heißt es, und das gilt auch ganz genau für mich.
*** Siehe dazu: CVI-Begriffe etc.]
Und: Es gab leider jemanden, der meine Naivität und Gutgläubigkeit ausgenutzt hat, was mir aber erst sehr viel später, erst während meines Schreibens und ‚Zurückblickens‘, bewusst geworden ist. Und es gab auch später, an einer anderen Arbeitsstelle, noch einmal ein ähnliches Vorkommnis …
Wie man sich wehrt, wehren kann, kann allgemein, insbesondere aber in solchen Situationen, das weiß ich bis heute nicht …
[Siehe dazu auch: Diskussionsseite – Zuschreibungen]
Nach meiner Ausbildung (und natürlich auch Weiterbildung) überkam mich ein großes Bedauern darüber, keinen Schulabschluss zu haben, um studieren zu dürfen. Das wollte ich nämlich inzwischen. Und zwar: Psychologie. Mit dem Berufsziel: Betriebspsychologin.
Meine Erkundigungen nach Möglichkeiten, einen dazu nötigen Schulabschluss nachzuholen, haben mich zum Telekolleg II geführt.
Telekolleg II, das heißt: Fachhochschul-Abschluss, berufsbegleitend, Unterricht per Fernsehen plus Schulunterricht vor Ort (wöchentlich einmal abends und am Samstag), Dauer: 2 Jahre. Zugabe: Nette Mitschülerinnen und Mitschüler, nette und engagierte Lehrer.
Die Zeit insgesamt war allerdings sehr anstrengend (neben Vollzeitberufstätigkeit) und nervenaufreibend, aber mein langersehnter Traum konnte wahr werden: Studium! Studieren! Studentin sein!
Und, ja: Meinen FH-Abschluss habe ich zwar auch geschafft, aber aus meinen weiteren Plänen, also meinem Psychologiestudium, ist nichts mehr geworden, weil mich zwei ‚Total-Zusammenbrüche’ ausgebremst haben, und ich in der Psychiatrie gelandet bin. - Diagnose, Medikamente. Aus. Mein endgültiger ‚Selbstwert-Zusammenbruch’. Und es gab auch hier ein großes ‚Schockerlebnis’*.
[* Diagnose: Schizophrenie; Medikamente: Haldol, plus Medikamente, die die Haldol-Nebenwirkungen* abmildern sollen. Siehe dazu auch: Blogbuchgedanken – Risperdal & Co., Zolpidem; Gedankensplitter – Neuroleptika, UAWs und ‚Risse im Universum‘; * sogenannte 'Nebenwirkungen' sind ebenfalls 'Wirkungen' ...]
Nichtsdestotrotz war aber die Studienzeit eine sehr schöne Zeit, ich habe sie genossen. Diese relative Freiheit. Nicht in einem Büro ‚eingesperrt‘ zu sein. Austausch mit Gleichgesinnten. Auch wenn ich Probleme hatte, mich in (größeren) Gruppen aufzuhalten, so war ich aber doch wenigstens dabei – auch wenn ich selbst meist nicht viel geredet, sondern zugehört habe.
Die letzten beiden Semester habe ich auch wieder gearbeitet, in Teilzeit bei meiner vorherigen Arbeitsstelle, und nach meinem – trotz allem erfolgreichen - FH-Abschluss habe ich geheiratet und einen Sohn bekommen und mich ganz bewusst aus dem Berufsleben zurückgezogen, mich auf meinen ‚neuen Beruf’ konzentriert: Hausfrau und Mutter. Kochen usw. musste ich erst lernen (und bin auch immer noch dabei, meine Kenntnisse zu vertiefen), und drei Kinder wollte ich haben - eine glückliche Familie.
Allerdings musste ich drei weitere ‚Total-Zusammenbrüche‘ erleben, und mich jedes Mal wieder mit ganz viel Kraft aus diesem ‚tiefen Loch‘, in das man fällt, herausarbeiten und damit leben, dass diese 'Zusammenbrüche' niemand versteht, und dass es ‚Hilfe‘ nur in Form von Neuroleptika gibt …
[Zum Nachdenken: „Antipsychotika: die Problematik der sich selbst erfüllenden Prophezeiung“ in: Stefan Weinmann – Die Vermessung der Psychiatrie, S.108; Psychiatrie Verlag 2019]
Und ich musste damit leben, dass eine Diagnose, die einmal gestellt worden ist, nicht mehr hinterfragt wird, und alles künftig nur noch in dieses ‚Diagnose-Etikett eingefügt‘ wird.
[Zum Nachdenken: „Gegen die Selbsttäuschungen des Fachgebiets: … Bei vielen Professionellen und bei vielen Psychiatrieerfahrenen ist der Eindruck entstanden, dass sich grundlegend etwas ändern muss.“ Stefan Weinmann – Die Vermessung der Psychiatrie, S.232; Psychiatrie Verlag 2019]
Und ich habe mich zusätzlich ‚einschüchtern’ lassen von den in unserer Gesellschaft üblichen Grundsätzen, von all dem, was als ‚selbstverständlich‘ angesehen wird: „… aber er/sie muss das doch können …“ - Banales Beispiel, was Dinge anbelangt, die man doch können muss, weil es doch schließlich jeder offensichtlich kann: Auto fahren …
[Zum Nachdenken: „Viel zu oft werden Menschen mit dem Asperger-Syndrom durch die Welt entmutigt, so dass sie viel von ihrem Selbstbewusstsein verlieren.“ Liane Holliday Willey – Ich bin Autistin, aber ich zeige es nicht; Verlag Rad und Soziales 2013, und siehe auch: CVI+Driving]
Es gab zwar hin und wieder Menschen, die festgestellt haben, dass ich wohl nicht gut sehe, aber das war es dann auch. - Wie konnte ich denn wissen/erahnen, inwieweit mein Sehen/meine Wahrnehmung anders ist als ‚normal‘, und dass es eben nicht an den ‚Augen‘ liegt und mit einer Brille korrigiert werden kann …?
[Siehe dazu auch: Sehen und Lernen; Blogbuchgedanken – CVI, Schizophrenie]
Wenn man noch einmal anfangen könnte, mit seinem jetzigen Wissen, noch einmal eine Chance hätte, wer weiß, wo ich heute ‚ankommen’ würde, mit entsprechender Hilfe und Unterstützung.
Aspergirls, Spectrum Women*: Pioneers … ♥
Traurig, aber dennoch ein Trost: Nicht allein zu sein, sondern zu wissen, dass es viele ‚Aspergirls/Spectrum Women‘ mit genau all den Problemen, die ich auch hatte (und teilweise auch noch immer habe) gibt.
Auch dank Euch habe ich mich ‚gefunden‘, meinen Wert als Mensch, meine Stärken erkannt, und muss nun nicht mehr aufgrund meiner Schwächen und all dem, was ich nicht kann, in Angst und Panik geraten …
[* Bezieht sich auf: Rudy Simone – Aspergirls: Empowering Females with Asperger Syndrome und Spectrum Women – Walking to the Beat of Autism; beide bei Jessica Kingsley Publishers, und siehe dazu auch: Blogbuchsplitter-Katatonie-2021 („Angst-Stress-Trauma-Mechanismus“); Diskussionsseite – Zuschreibungen]
Wenn man ‚in sich selbst ruhen’ kann, wenn man weiß, welchen Wert man als Mensch hat, wenn man sich angenommen, geliebt und respektiert weiß, dann können andere vieles sagen und behaupten, und man muss sich nicht dagegen wehren, sich (zu sehr ...) verletzt fühlen oder sich verunsichern lassen.
Und es ist ein großes Geschenk, wenn man in Situationen, die verunsichern, hilflos machen, wenigstens einen Menschen hat, dem man sich anvertrauen kann, der hilft, etwa aufkommende (Selbstwert-) Zweifel zu zerstreuen – oder hilft, an sich zu arbeiten, wenn man erkannt hat, dass es etwas zu ‚arbeiten’ gibt. – Auch Bücher können eine große Hilfe sein und notfalls einen solchen Menschen ‚ersetzen‘ …