Nachtrag

Meine Gedanken zu Hans Asperger

Nachdem ich vor ein paar Jahren auf das Asperger-Syndrom und damit auch auf den Namen Hans Asperger aufmerksam geworden bin, habe ich mir sein Buch „Heilpädagogik“ besorgt bzw. besorgen lassen. Natürlich wollte ich zu diesem Zeitpunkt auch alles in diesem Buch lesen …

Das Buch umfasst 317 sehr eng bedruckte, großformatige Seiten, und bis heute habe ich nur ein paar wenige Seiten gelesen - nur gerade die Seiten, die mich ganz besonders interessiert haben, vor allem im Zusammenhang mit dem Thema Autismus.

Es geht in diesem Buch vorrangig um die Themen Schwachsinn, soziale Wertigkeit, Neuropathie*, Psychopathie*, Autismus, Schizophrenie, Hysterie, Enzephalopathie*, Epilepsie, Angst bei Kindern, Lügen und Stehlen.

 

Weitere wichtige Themen sind auch Geburtstraumen, organische, vegetative und endokrine Störungen und ihre Auswirkungen.

 

Inwieweit Hans Asperger in den (unsäglichen …) Jahren vor Erscheinen seines Buches dazu beigetragen hat, dass Kinder getötet („euthanasiert“ …) wurden, kann ich nicht beurteilen. Ich möchte hier nur ein paar Beispiele anführen, um seine exzellente Beobachtungsgabe, die er zweifellos hatte, aufzuzeigen.

Es sind nämlich hochinteressante Beobachtungen, die er in seinem mehr als umfangreichen Buch auflistet - und nicht nur hochinteressante Beobachtungen zu den „Besonderheiten“ seiner „autistischen Jungs“.

 

Insbesondere bei den – wie er sie nannte - „autistischen Psychopathen“ sah er:

·        Kontaktablehnung, Sprechverarmung und starke Angstsymptome, die den Beginn einer „kleinkindlichen Schizophrenie“* anzeigen konnten;

·        Besonderheiten der Sprache;

·        Benehmensschwierigkeiten;

·        charakteristische Eigenheiten des Blicks;

·        auffälliges motorisches Verhalten, Ungeschicklichkeit;

·        die Isolierung, „als ob das Kind allein auf der Welt wäre“, ein Fremdling;

·        stereotypes Hantieren, manchmal einfachste Bewegungsstereotypien;

·        dass sie gehänselt, abgelehnt und angegriffen werden;

·        in vielen Fällen die besondere Art ihrer intellektuellen Begabung;

·        die Eigenständigkeit der sprachlichen Formulierung aufgrund der Originalität ihres Erlebens;

·        ihre Fähigkeit des originellen Beobachtens, Sonderinteressen;

·        dass sie in ihrem eigenen Körper nicht recht zu Hause sind;

·        eine Überempfindlichkeit gegenüber Geräuschen und Lärm.

Und er sah auch,

·        dass es bei den „autistischen Psychopathen“* originelle, eigenständig gescheite Denker gibt, die aber nicht „mechanisierbar“ [!] seien; (S. 37)

·        dass sich bei „Debilen“* manchmal später auch ein Sondertalent findet, das man in der Kindheit nicht vermutet hätte. (S. 85)

 

Demgegenüber stehen zahlreiche negative Bewertungen, was die Absichten hinter den Handlungen autistischer Kinder anbelangt, die er z. B. als „Bosheits- oder Racheakte“ bezeichnet:  

 

·        „Das ganze Gehaben der Autistischen, ihre Redeweise, nicht zuletzt die oft groteske Ungeschicklichkeit fordern ja zu Hänseleien geradezu heraus. Aber gerade sie verstehen so gar keinen Spaß (auch darüber später!): hemmungslos, ohne Rücksicht auf die Situation, gehen sie los oder rächen sich durch Bosheiten.“ (S. 183)

 

Und auch von „Gemütsarmut“ (S. 191) ist die Rede, von aktivem Widerstand, Negativismus und Bosheiten als Antwort auf Anforderungen (S. 181).

 

Vereinzelt werden auch Erziehungsmethoden / Erziehungsversuche erwähnt. Ein Beispiel aus dem Kapitel „Kindliche Schizophrenie“:

 

·        „Freilich wurde er auch in unvernünftiger Weise viel geschreckt. Wenn er nicht folgte, hielt man es für das „einzige Mittel, ihm zu imponieren“, daß die Großmutter sich mit Tüchern vermummte und ihm auf allen Vieren laut bellend entgegenkam; da bekam er einen fürchterlichen Schreck, … war dann brav …“ (S. 226)

 

Hans Asperger hat immer auch die jeweilige familiäre Situation mit einbezogen in seine Überlegungen und Gedanken zu „seinen Kindern“ – entsprechend den damals gültigen Normen, Werten und „gesellschaftlichen Anforderungen“.

 

Ganz wichtig, wie ich finde, so hat er auch bereits damals einen Zusammenhang gesehen zwischen verschiedenen Hirnstörungen und einer vorausgegangenen Enzephalopathie* - nachzulesen im Kapitel „Postenzephalitische Persönlichkeitsstörungen, Enzephalopathien“*.

 

Und was er auch wusste:

 

·        „Sehr aufschlußreich und typisch erscheint uns eine Beobachtung, die wir in Amerika machen konnten: da gibt es nicht nur weit mehr autistische Frauen, sondern es findet sich das gleiche, in allen Einzelheiten charakteristische Bild auch bei Mädchen, gar nicht viel seltener als bei Knaben.“ (S. 199)

 

Aus seinem Vorwort zur ersten Auflage:

 

„Alles aber, was hier gesagt wird, ist mit eigenen Erfahrungen in Beziehung gesetzt und vor diesen verantwortet. Die wirklichkeitsgetreue Beschreibung des Geschehens ist ein Hauptanliegen des Buches. Der Verfasser geht von einer Ganzheitsbetrachtung der körperlichen und seelischen Gegebenheiten und Vorgänge aus und will den Leser zu einer solchen führen.“

 

Wien, im April 1952                                                                                  Hans Asperger

 

Hans Asperger hat seine Patienten also jeweils immer ganzheitlich betrachtet, und seine Schlussfolgerungen sind ein hochinteressantes Zeitdokument, was das damalige medizinische Wissen und Denken anbelangt und auch einen tiefen Einblick gewährt in das gesellschaftliche Denken und die gesellschaftlichen „Anforderungen“ dieser Zeit. Und wie Kinder zu sein hatten.

 

Ein letztes Beispiel:

 

·        „Wir haben fast drei Jahrzehnte lang [!] den Lebensweg eines Knaben und jungen Mannes verfolgt, der in seinem ganzen Verhalten das ausgeprägte Bild des Autistischen Psychopathen zeigte. Es war, als nähme er die anderen Menschen überhaupt nicht zur Kenntnis, … erkannte die nächsten Bekannten oft nicht wieder. …“ (S. 202)

 

[Hans Asperger - „Heilpädagogik“, Springer-Verlag 1968 Wien – New York;

Fünfte Auflage (Erstauflage 1952). – Ich hoffe sehr, dass ich (auch hier …) keine Copyright-Rechte verletze.]

 

Von jeder Seite dieses Buches könnte ich vermutlich jeweils mindestens ein Zitat anführen, um Hans Aspergers Beobachtungsgabe aufzuzeigen - seine Sicht auf Kinder, aus seiner Sicht und aus Sicht der damaligen Zeit -, und aufzeigen, wie man all dies möglicherweise einordnen könnte in die heutige Gesellschaft, in das heutige medizinische Verständnis.

 

Hans Aspergers Buch ist also v. a. ein Zeitdokument. Er schreibt am Ende des Buches, im letzten Kapitel „Pädagogische Therapie“:

·        „Gefährlich nahe liegt immer das Wort vom „lebensunwerten Leben“. Nun zerstört, das müßte uns allen nach einer so schrecklichen Menschheitskatastrophe klar sein, eine Einstellung, die meint, es gebe wirklich menschliches Leben, das keine Berechtigung habe, geradezu die Fundamente der sozialen Gemeinschaft.“ (S. 299)

 

*-Begriffe:

.

Psychopath

„Ein seelisch Leidender.“ [DUDEN]

Der Betroffene bzw. die Gesellschaft leiden an der Abweichung; im heutigen Sprachgebraucht ersetzt durch den Begriff Persönlichkeitsstörung.

 

Debilität

Gravierender Intelligenzdefekt. [DUDEN]

Veraltete Bezeichnung für leichten Grad der geistigen Behinderung.

 

Kleinkindliche Schizophrenie (childhood schizophrenia)

Mögliche frühe Anzeichen:

·        Sprachliche und motorische Entwicklungsverzögerung

·        Armwedeln, Schaukelbewegungen o. Ä.

·        Angst, Verwirrtheit

·        evtl. störendes Verhalten

·        evtl. Halluzinationen, die aber schwer abzugrenzen sind von normaler kindlicher Phantasie

 

Die Begriffe Autismus und Schizophrenie wurden schon damals und werden auch heute noch zusammen genannt, so auch bei Hans Asperger. Er schreibt (S. 177):

 

·        „Name und Begriff „Autismus“ stammen von BLEULER, der ein führendes Symptom der Schizophrenie so bezeichnete und darunter subsumierte, daß die Schizophrenen den „Kontakt mit der Wirklichkeit verlieren“, „sich nicht mehr um die Außenwelt kümmern“, …“

 

Hans Asperger sah Angst als führendes Symptom der kleinkindlichen Schizophrenie. Und er schreibt auch, dass es schwierig sein kann, schizophrene Prozesse gegen organische Hirnstörungen, vor allem gegen chronische Enzephalitiden, abzugrenzen (S. 231, S. 234)

 

Enzephalitis

Entzündung des Gehirns:

·        Entzündung der grauen Substanz (Substantia grisea), der weißen Substanz (Substantia alba) oder des gesamten Gehirns,

·        evtl. mit Beteiligung der Hirnhäute (Meningen).

 

U. a. können Viren (z. B. Herpes-, FSME-Viren), Bakterien, Pilze und Urtierchen (Protozoen) eine akute Enzephalitis verursachen.

 

-> Siehe dazu auch: Wunderwerk Gehirn etc.

 

Enzephalopathie

Bezeichnung für eine nichtentzündliche diffuse Erkrankung oder Schädigung des Gehirns.

 

Formen:

·        Metabolisch (stoffwechselbedingt, z. B. bei Leberversagen, Thiaminmangel [Vitamin B1-Mangel])

·        Toxisch (durch Vergiftung, z. B. bei Bleivergiftung)

·        Posttraumatisch (z. B. nach Schädelhirntrauma)

·        Vaskulär (z. B. bei chronischer Blutdruckerhöhung)

·        Septisch (bei schwerer Sepsis [Blutvergiftung])

·        Angeboren

 

 

[Quelle: Klinisches Wörterbuch Pschyrembel 2007]

 

Dazu noch einmal Hans Asperger:

 

·        „In anderen Fällen wieder steckt hinter scheinbar primär psychischen Veränderungen, die völlig einem schizophrenen Prozeß gleichen, ein chronisch-entzündlicher Hirnprozeß oder der Restzustand nach einer Enzephalitis. Wir kennen aber auch zwangsneurotische Zustandsbilder, bei denen die Diagnose einer postenzephalitischen Persönlichkeitsstörung schlüssig begründet werden kann (…). So ist also zu sagen: Die Hirnentzündung kann alle, aber auch alle „funktionellen“ Störungen der Persönlichkeit nachahmen.“ (S. 121)

 

Zu Kleinkindliche Schizophrenie (childhood schizophrenia) bitte lesen bei Wikipedia:

https://en.wikipedia.org/wiki/Pediatric_schizophrenia

 

Und zum Nachdenken …

Neuropathie und Psychopathie - Definitionen von Hans Asperger:

.

Neuropathie

Funktionsanomalien des nervösen Apparats

(= vegetatives Nervensystem)

 

Zur Erinnerung …

Zum vegetativen Nervensystem gehören:

- Sympathikus

- Parasympathikus

- Intramurales System / Enterisches Nervensystem

 

[Intramural = innerhalb der Wand eines Hohlorgans gelegen; enter = Wortteil mit der Bedeutung Darm, Eingeweide]

 

-> Siehe dazu auch: Glossar – Plexus etc.

 

Psychopathie

Primäre charakterliche Abartigkeiten

 

 

 

Und noch einmal Hans Asperger:

·        „Vieles von dem, was hier „neuropathisch“ genannt wird, heißt vor allem in der angelsächsischen Literatur „neurotisch“. Dahinter steht eine grundsätzlich andere Anschauung vom Wesen dieser Symptome: daß sie nämlich allein von außen her, vom traumatisierenden Erlebnis bedingt seien. Abgesehen von diesem Gegensatz im ätiologischen Denken ist unser Begriff vom „Neurotischen“ viel enger, wie noch auszuführen ist.“ (S. 143)

 

Siehe auch:

https://de.wikipedia.org/wiki/Enzephalitis

https://en.wikipedia.org/wiki/Encephalitis

https://en.wikipedia.org/wiki/Postencephalitic_parkinsonism

https://en.wikipedia.org/wiki/Parkinsonism

https://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ische_Schlafkrankheit

(Europäische Schlafkrankheit; Encephalitis lethargica)

https://de.wikipedia.org/wiki/Vegetatives_Nervensystem

https://de.wikipedia.org/wiki/Enterisches_Nervensystem

https://de.wikipedia.org/wiki/Neuropathie

https://de.wikipedia.org/wiki/Psychopathie

https://de.wikipedia.org/wiki/Neurose

Etc.

 

 

Was man im Zusammenhang mit Hans Asperger auch nicht vergessen sollte, sind die gesellschaftlichen Umstände und Anforderungen, die damals an eine Mutter und an ihre Erziehung gestellt wurden. Ganz maßgeblich beeinflusst wurde die Kindererziehung durch ein Buch der österreichisch-deutschen Ärztin Johanna Haarer:

·        Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind (1934)

 

Ein paar Zitate, um die Problematik aufzuzeigen:

 

·        „Die Grundzüge ihres Erziehungsideals waren Zucht, Unterwerfung, Reinlichkeit und insgesamt Kinder- wie auch Frauenfeindlichkeit: …“

·        „Die Erziehung wird bei Haarer zu einer Technik, die durch die Ablehnung von Freude, Zuneigung oder Trösten gekennzeichnet ist und (nach Sigrid Chamberlain) das „Kind als Feind“ betrachtet. …“

·        „Auch nach 1945, bis in die 70er Jahre fand sich Haarers Buch in einer entschärften Fassung in fast jedem Haushalt der Bundesrepublik. …“

·        „Die Publikation erreichte bis 1987 eine Gesamtauflage von ca. 1,2 Millionen. Noch in den 1960er Jahren diente es als Lehrbuch in Berufs- und Fachschulen, z. B. bei der Ausbildung von Hauswirtschaftslehrerinnen, die dieses „Wissen“ dann wiederum ihren Schülerinnen andienten. …“

 

Weitere Bücher von Johanna Haarer:

·        Unsere kleinen Kinder (1936)

·        „Mutter, erzähl‘ von Adolf Hitler!“ (1939)

 

Vermutlich leiden noch viele bis heute an den Folgen dieses „Denkens“, das solche „erzieherischen Grundsätze“ hervorgebracht hat.

 

Quelle hierzu:

Wikipedia - https://de.wikipedia.org/wiki/Johanna_Haarer

 

27.06.2016

[13.03.2020: Habe heute zufällig entdeckt, dass dieser Text, den ich eigentlich am 27.06.2016 eingefügt hatte, nicht (mehr) angezeigt wird. (?) – Deshalb ein ‚neuer Versuch‘ …]

 

 

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